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Der Zukunft zugewandt

„Latücht“ ist ein plattdeutscher Ausdruck für die Laterne, also das Licht in der Dunkelheit. Das ist der Neubrandenburger Latücht-Verein in mehrererlei Hinsicht. Er verfügt über internationales Renommee als Ausrichter des Festivals dokumentART, das Mitte Oktober zum 26. Mal über die Leinwand ging, in einer Stadt, die kulturelle Aktivitäten dringend nötig hat. Die neue Leiterin Yun-Hua Chen, eine in Berlin lebende taiwanesische Filmkritikerin, hat begonnen, das traditionelle Dokumentarfilmfestival stärker dem Animations- und Kurzspielfilm zu öffnen. Seit diesem Jahr gilt der neue Namenszusatz „films & future“. Ebenso richtig ist aber der Gedanke, dass nur der die Zukunft gestalten kann, der Vergangenheit und Gegenwart verstanden hat. Und so hat sich eigentlich nicht allzu viel geändert. Wer bei „Latücht“ an die Laterna magica denkt, liegt nicht völlig falsch. Zumindest jahrzehntealte Schmalfilme wurden für aktuelle Filme des Wettbewerbs mehrfach ausgeschlachtet.

So versuchte die niederländische Filmemacherin Tessa Louise Pope in „The Origin of Trouble“ u.a. mit privatem Schmalfilmmaterial zu ergründen, wie es in ihrer Kindheit zu familiären Konflikten kam.
Und Spielfilme? Auch in früheren Jahren verirrten sich beispielsweise Mockumentaries ins Programm, Filme, die vorgeben, ein Dokumentarfilm zu sein und eine fiktive Geschichte erzählen. In diesem Jahr war es beispielsweise „Nebojsa“ (Have no fear) des slowakischen Filmstudenten Jakub Gajdos. Ein Dorfpfarrer an der Grenze zu Ungarn fertigt zusammen mit seiner Mutter Jesus-Masken für seine Schäfchen an, mit denen sie sich vor den eventuellen Anfechtungen des Islams schützen sollen, eine Parodie auf religiösen Fanatismus. Zu den wenigen Kurzspielfilmen des Festivals zählte „Chitebi“ (Vögel) des Georgiers Giorgi Tkemaladze. Er bringt uns einen kleinen Jungen nah, der seine Mutter verloren hat und vielerlei Vögel fängt, die ihn zur Mutter in den Himmel bringen sollen. Doch die Großmutter macht ihm klar, dass er ihnen damit die Freiheit raubt und den Küken die Eltern. So lässt er sie frei. Tkemaladze, der auch Mitglied der internationalen Jury war, wollte seinen Film sinnbildhaft auf die angespannte Situation mit dem russischen Nachbarn verstanden wissen.

„Vögel“ lief in einer Nebenreihe des Fesivals, wie auch der seiner Jury-Kollegin Olga Khoroshavina, deren Film “Natasha“ aus dem Leben einer Transsexuellen erzählte. Leider klammerte sie einige Probleme aus, wollte auf jeden Fall gerade Russen für die Schicksale dieser Menschen sensibilisieren. Außer als Festivalbeitrag konnte der Film dort noch nicht gezeigt werden, weil das Unverständnis in Russland zu groß ist.

Der Film „Bilderkrieg“ des Baden-Württembergers Konstantin Fleming wurde schon vor einem knappen Jahr im SWR gesendet und kann nicht oft genug gezeigt werden, weil er für den Umgang mit den Medien sensibilisiert. Es ist ein Porträt des freien Kriegsfotografen Benjamin Hiller, der mit viel Engagement etwa aus Syrien, Ruanda oder dem Irak berichtet, sich in Lebensgefahr begibt und doch bei den festgefügten Finanzrahmen und der geschmäcklerischen Auswahl seiner Sujets bei den Abnehmern gerade nur sein Existenzminimum sichern kann. Sozusagen das Gegenbeispiel zeigten Sylvie Boisseau und Frank Westermeyer in „Bootstrap – die beschlossene Zukunft“. Sie erklären nicht oberflächlich und doch verständlich, was für ökonomische Beziehungen angebahnt und Finten geschlagen werden, um Wirtschaft und Finanzsektor für die Zukunft zu sichern (und dabei Luftblasen einkalkulieren). So werden (das sagen die Filmemacher wohlweislich nicht) auch Kriege finanziert.

Grotesk wirkten manche Sujets des Streifens „Nature: All Rights Reserved“ (Natur: Alle Rechte vorbehalten), weil die meist originalgetreue Nachahmung der Natur Blüten treiben kann. „Kunstblumen im Frühling sind seltsam, wie eine Erinnerung an JETZT“ hat der Arzt und Autor Bernd Lorenz mal geschrieben. Mulder zeigt Kunstrasen und Waldmotiv-Tapeten, das trügerische Südsee-Erlebnis im brandenburgischen Tropical Island, aber er vergisst auch nicht, dass die imaginierte Natur Menschen bei bestimmten Erkrankungen Linderung bringen kann. Der junge Regisseur erhielt den Preis der Stadt Neubrandenburg.
„Ich glaube an den Zweifel. Ich zweifle an meinem Glauben. Ich zweifle, an meinen Zweifel zu glauben“, hat Louis Aragon gesagt. Zu diesem Thema hat Florian Karner, Student der Filmakademie Baden-Württemberg, seinen Film „Dubito ergo sum – Ich zweifle, also bin ich“ gedreht. Er porträtiert einen Mediziner, der zwar keinen Verschwörungstheorien anhängt, aber doch glaubt, dass die Reichen und Mächtigen böse Absichten gegenüber dem Rest der Gesellschaft hegen. Da mag er nicht falsch liegen. Trotzdem ist der Arzt ein Zweifelnder, der hinterfragt und eine große soziale Kompetenz hat. Diesem Film gab die Studentenjury des Studierendenwerks Greifswald ihren Preis.

Die Hauptauszeichnung der dokART, den Latücht-Preis erhielt die japanisch-schweizerische Produktion „Half-Life in Fukushima“, wobei der erste Begriff sowohl das halbe Leben als auch die Halbwertzeit meint. Die Filmemacher Mark Olexa und Francesca Scalisi begleiteten einen japanischen Bauern, der aus Liebe zu seiner Heimat fünf Jahre nach dem Reaktorunfall in Fukushima in sein Haus innerhalb der evakuierten Zone zurückgekehrt ist. Voller Überlebenswillen und Heimatliebe entscheidet er sich, trotz der radioaktiven Gefahr auf dem Land seiner Vorfahren zu bleiben. Inmitten dieser post-apokalyptischen Landschaft kultiviert er Ackerland und züchtet Rinder. Gern hätte man die Regisseure zu den Dreharbeiten befragt, aber anders als viele andere Filmemacher waren sie nicht nach Neubrandenburg gekommen, weil sie – und das ist Glück – wieder ein Filmprojekt haben.

An Neubrandenburg als einstigen Standort des nationalen Dokumentarfilmfestivals der DDR wird immer mal wieder erinnert. In diesem Jahr zeigte der aus der DEFA stammende Altmeister Volker Koepp seinen jüngsten Film „Landstück“ (2016) und stellte fest, dass er mit diesem Dokfilm über die Gier nach Land zur bio-industriellen Nutzung in der Uckermark selten eine so angeregte Diskussion wie hier gehabt hätte.
Frank-Burkhard Habel

 

 

Kleines polnisches Festival mit großer Tradition

 

Das 46. Festival nach 49 Jahren! Der vom Filmkulturklub Zielona Gora in dem kleinen Urlaubsort Łagów organisierte Lebuser Filmsommer (Lubuskie Lato Filmowe) fiel seit 1969 nur dreimal aus. Inzwischen ist für Festivalchef Andrzej Kawala der Kampf um Sponsoren aufreibender als die Zusammenstellung des umfangreichen Programms. In diesem Jahr konnte er wieder von der Förderung der Euroregion „Sprewa-Nysa-Bobr“, also durch die Mitarbeit von Filmfreunden von der anderen Seite von Oder und Neiße profitieren. Auch ich hatte als Mitbegründer des Cottbusser Filmfestivals die Ehre, auf einem Symposium über Ko-Produktionen zwischen der DEFA und dem polnischen Film zu referieren.
Von deutscher Seite waren in diesem Jahr die DFFB wie auch die Jost Hering Filmproduktion in mehreren Sektionen besonders stark vertreten. Herings ältester in Łagów gezeigter Film war der zu Unrecht vergessene Wende-Film „Dana Lech“, den Regisseur Frank Blasberg 1989/90 an der DFFB unmittelbar nach dem Mauerfall drehte. Trotz einiger schematischer Dialoge in der deutsch-polnischen Liebesgeschichte frappierte der Film durch seine Authentizität, durch das stimmige Zeitkolorit. Blasberg war bei der Vorführung zugegen und konnte viel über die Umstände der Entstehung erzählen.
Ein anderer von Jost Hering mit Österreich produzierter Film wurde vor zwei Jahren viel zu wenig beachtet. War es Zufall? Regisseur Christian Frosch schlägt in „Von jetzt an kein Zurück“ einen geschickten Bogen von den aufkommenden Jugendrevolten der sechziger Jahre über die Defizite der BRD-Heimerziehung bis zur RAF in den Siebzigern. Der Film hat – wie in Łagów mehrere Beispiele – auch eine religionskritische Komponente. Die Heldin Ruby (Victoria Schulz) muss im Heim Repressalien erdulden, und die frommen Schwestern, differenziert gespielt von Erni Mangold, Walfriede Schmitt und Cora Frost, glauben tatsächlich, den Zöglingen Gutes zu tun.
Auch, wenn mehrere Filme aus Osteuropa, besonders aus Tschechien, der Slowakei und Ungarn am Wettbewerb teilnahmen, dominierten doch neuere polnische Filme das Festival, unter ihnen Agnieszka Hollands schon auf der Berlinale ausgezeichneter Film „Fährte“ (Pokot), der den Tierschutz propagiert, aber auch viel über das Leben in der polnischen Provinz erzählt. Mehrere biografische Filme erzählten von der Vergangenheit in der sozialistischen Ära und schlugen einen Bogen in die Gegenwart. „Stars“ (Gwiazdy) von Jan Kidawa-Blonski schildert recht glatt die Geschichte des deutsch-polnischen Fußballers Jan Banas, der sich 1965 zu seinem deutschen Vater in die Bundesrepublik absetzte und nach verschiedenen Querelen reumütig nach Polen zurückkehrte. Andrzej Wajda widmete sich in seinem letzten Film dem avantgardistischen Maler Wladislaw Strzeminski zu Beginn der fünfziger Jahre, als auch in Polen bei der Formalismus-Debatte viel Porzellan zerschlagen wurde. Wajdas trostlose Schilderung der Vorgänge ist undifferenziert und hasserfüllt. Auf den wenigen Festivals, bei denen der Film 2016/17 gezeigt wurde, konnte er auch keinen Blumentopf gewinnen.
Beeindruckend war hingegen „Die letzte Familie“ (Ostatnia Rodzina) von Jan P. Matuszynski über den Maler Zdzisław Beksiński, der nur beiläufig in seiner künstlerischen Arbeit gezeigt wird. Seine familiäre Situation von 1977 in der sein psychisch kranker Sohn eine wesentliche Rolle spielt, bis zu Beksińskis Ermordung 2005 im Zeichen auch in Polen herrschender brutalster Kleinkriminalität geschildert wird, stehen im Mittelpunkt. Obwohl der Film mit dem Tod des Protagonisten endet, atmet er viel Energie und künstlerische Kraft.
Frank-Burkhard Habel

 

 

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Die Goldenen Spatzen sind vergeben,
das 25. KinderMedienfestival Goldener Spatz ging am Freitag, dem 16. Juni 2017 mit der festlichen Preisverleihung im Erfurter Theater zu Ende. Es war wie immer: Die Produzenten zittern und die Kinder vergeben die Preise. Abgeräumt hat in diesem Jahr der Film „Amelie rennt“ (Regie: Tobias Wiemann, Buch: Natja Brunckhorst, Co-Autorin Jytte-Merle Böhrens) der Lieblingsfilm-Produktion mit dem Preis für das beste Drehbuch des MDR Rundfunkrates und dem „Goldenen Spatzen“ der Kinderjury – ein Originalstoff für Kinder.
Sofort einig war sich die Kinderjury auch bei der Preisvergabe im Bereich Minis an die Berliner Regisseurin Jessica Dürwald für „Mücken nerven Leute“ – ein Phänomen das wohl jeder kennt.
Der beste Kinderdarsteller wurde Arved Friese aus „Timm Thaler oder das verkaufte Lachen“ (Regie: Andreas Dresen).

Alle weiteren Infos zu den Preisträgern gibt´s unter www.goldenerspatz.de

Herzlichen Glückwunsch!

 

 

Fünf Fragen an Nicola Jones

Das KINDER-MEDIEN-FESTIVAL  GOLDENER SPATZ hat eine neue Festivalleiterin. Nicola Jones löst Margret Albers ab, die das Festival in seinem 25. Jahr überraschend verläßt. Unter den Händen von Magret Albers ist in den vergangenen Jahren rund um das Festival viel entstanden. Thüringen wollte sich als Kindermedienland profilieren. Der „Goldene Spatz“ hat sich von dem traditionellen, schon seit 1979 in DDR bekannten Kinderfilmfest, zu einem Medienfestival für Kinder entwickelt.

 

Inzwischen fliegt der „Goldene Spatz“ in der Gründerstadt Gera und in der Landeshauptstadt Erfurt und hat die volle Unterstützung der Landesregierung. Eine Kinderjury entscheidet nach wie vor, was Qualität hat und nimmt die eingereichten Beiträge gnadenlos unter die Lupe: vom Kinofilm bis zum Mausspot, von der Unterhatlungsserie über die Kinder-Website bis zum Indi-Game. So mancher Produzent hat sich die Begründung der Kinder-Jury schon eingerahmt und an die Wand gehängt. Die Jury-Kinder kommen inzwischen aus fünf deutschsprachigen Ländern. Sie bewerben sich mit eigenen Filmkritiken. Die Kinder sind pfiffig, sie sagen auch, was ihnen nicht gefällt oder was besser und kindgerechter gestaltet werden sollte. So hat sich das Festival zu einem wichtigen Branchentreffpunkt entwickelt. Am Standort Erfurt gibt es jedes Jahr interessante Fachveranstaltungen für Redakteure, Regisseure und Produzenten. Neben medienwissenschaftlichen Foren sind der „Blick in die Werkstatt“, die „Stoffbörse“ und die Präsentation der Stoffe der „Akademie für Kindermedien“ eine feste Größe geworden.  Am Standort Gera läuft das medienpädagogische Programm.

Nicola Jones übernimmt sozusagen „im freien Flug“ von Margret Albers, die das Festival aus persönlichen Gründen verläßt.

 

Fünf Fragen an Nicola Jones:

 

Welche Pläne haben sie für das Festival?

An erster Stelle steht für mich die Kontinuität zu wahren. Wir haben in diesem Jahr das 25. Kinder- Film- und Medienfestival und da will ich erst einmal sicher stellen, dass alles gut läuft. Ich möchte die Breite und Vielfalt erhalten, das ist mir sehr wichtig.

 

Worauf legen Sie in diesem Jahr ihr besonderes Augenmerk?

Wichtig sind mir die Film-Patenschaften und die Workshops. Schön wäre es, wenn das Festival nach außen, also im öffentlichen Raum, sichtbarer werden könnte. Wir müssen jede Werbefläche teuer bezahlen. Das Geld fehlt dann dem Festival. Wir haben immer noch Schwierigkeiten mit dem Budget. Manchmal denke ich, wenn es nicht ein Kinderfestival wäre, wäre das anders. Mit sichtbarer meine ich aber auch, dass wir bessere Präsentationsräume schaffen können, für das was die Kinder beispielsweise in der web-Jury tun. Das ist nach außen nicht sehr sichtbar.

 

Was meinen Sie mit Präsentationsräumen?

Die Kinder entscheiden beispielsweise darüber, welche web-site sie für kindgerecht halten oder welches Spiel besonders spannend ist. Wenn wir einen Raum im Rahmen des Festivals hätten mit Computern, wo dann auch Schulklassen hinkommen könnten, wo Workshops und Diskussionen stattfinden, der dann auch entsprechend gestaltet ist, vielleicht von einem Szenenbildner, wäre das schön. Eine andere Idee ist, daß wir Kindern und Erwachsenen gemeinsam die Möglichkeit geben ein Spiel auf der großen Leinwand zu spielen, damit auch die Erwachsenen besser verstehen, was da passiert, in welche Welten sich ihre Kinder begeben. Wir haben in diesem Jahr erstmalig auch einen Wettbewerb für Indi-Games, das sind Spiele aus kleinen unabhängigen Entwicklerstudios.

 

 

 

Wie wollen Sie das Festival perspektivisch entwickeln?

Ich könnte mir vorstellen auch den Bereich Jugendfilm dazu zu nehmen. Die Jugendlichen, so ab  zwölf, vierzehn Jahren sind eine Gruppe, die oft hinten runterfällt. Dabei gibt es für Jugendliche sehr gute Filme. Auch international. Das wäre noch ein weiterer Punkt. Wir können schauen, ob wir unsere Kooperationen zum Beispiel zu den skandinavischen Ländern auch im Rahmen des kids-regio Wettbewerbs ausbauen.

 

 

Was wünschen Sie sich für das Festival?

Ich wünsche mir einfach, dass das Festival sich weiter gut entwickelt, dass es ganz selbstverständlich für die Schulen wird, sich zu beteiligen und wir noch besser kooperieren.

Vom Fachpublikum wünsche ich mir gute Ideen. Das Festival ist ja eine wunderbare Plattform, um sich über die Vielfalt der Genres, der Themen und der Medien zu informieren und miteinander ins Gespräch zu kommen. In Erfurt sind schon viele Projekte entstanden. So mancher erfolgreiche Kinderfilm hat hier seinen Ursprung genommen. Die Erfurter Sommernächte sind lang.

 

Frau Jones, wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

Beate Fichtner  (Mitglied des Kuratoriums des Festivals Goldener Spatz, Vorstandsmitglied BFFV)

 

Das Festival findet in diesem Jahr vom 11. – 17. Juni statt. Einladungen für die Eröffnungsveranstaltung in Gera oder die Abschlussveranstaltung in Erfurt und den Empfang erhalten sie über den Vorstand des Berliner Film- und Fernsehverbandes.

 

Neiße-Filmfestival 2017

Kino zwischen Bühnen

Traditionell wird das Neiße-Filmfestival (NFF), das im Wettbewerb Filme des Dreiländerecks Deutschland – Polen – Tschechien präsentiert, im Zittauer Gerhart-Hauptmann-Theater eröffnet. In der Stadt gibt es weitere Spielstätten, neben dem Kronenkino beispielsweise das Café Jolesch, wo in diesem Jahr der bekannte tschechische Autor Jaroslav Rudiš in bravourösem Deutsch seine Texte las. Er hat den Kult-Comic „Alois Nebel“ über die historische Situation in den Sudeten 1945 geschrieben, dessen mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnete Verfilmung von 2011 in einer Nebenreihe des Festivals lief.

Zur Zittauer Eröffnung des Festivals lief der kirgisische Film „Zentaur“, in dem Regisseur Aktan Arym Kubat selbst einen eigentlich liebenswerten Pferdedieb spielt, der zwischen modernem Alltag und überkommenen religiösen Vorstellungen verhaftet ist. Der auch mit deutschem Geld entstandene Streifen verwies auf den Fokus „Macht des Glaubens“, in dem auch der polnische Dokumentarspielfilm „Kommunion“ (der seit Anfang Mai auch in deutschen Kinos läuft) zu sehen war. Regisseurin Anna Zamecka hat eine authentische Familie gefunden, in der sich eine 14jährige Ola intensiv um ihren 13jährigen, autistischen Bruder kümmert, um ihn zur Kommunion zu führen. Ihr eigenes Leben kommt dabei zu kurz. Das ist gut beobachtet und hat auch heitere Momente, wenn der Bruder Glaube, Hoffnung und Völlerei als die drei Tugenden angibt, denn Liebe ist etwas Unanständiges, und jeder isst gern.

Ola passt gut zu den vielen traurigen Mädchen, die beim NFF den Spielfilmwettbewerb kennzeichneten.

In der zweiten Mai-Woche ging das NFF bereits zum 14. Mal über Bühne und Leinwand, endlich auch mit deutlich größerer Aufmerksamkeit und durch sächsische Landesförderung auch mit höherem Budget. Das Kernstück, der Spielfilmwettbewerb, war nun wieder an den Ursprung, ins Kunstbauerkino von Großhennersdorf zurückgekehrt. Zu den 23 Spielstätten des NFF gehörten auch solche in der polnischen und tschechischen Nachbarregion im Dreiländereck. Das Festival bringt massiv Kultur in die Provinz, beispielsweise nach Löbau, wo es kein Kino mehr gibt und das von einem Verein geführte Sudhaus NFF-Spielstätte wurde. Hier lief vor ausverkauftem Haus Jens Wischnewskis Debütfilm „Die Reste meines Lebens“, der schon Ende Mai seinen Kinostart hat. Christoph Letkowski spielt in dem kunstvoll verschachtelt erzählten Film einen jungen Mann, der seine Frau verliert und sich kurz nach ihrem Tod gleich wieder verliebt. Damit gewann Wischnewski beim NFF den Publikumspreis.

In Anwesenheit der Regisseurin Tereza Nvotová sah der Wettbewerb im Kunstbauerkino einen Film, der der Haupreisträger werden sollte: die tschechisch-slowakische Koproduktion „Dreck (Spina)“, der die tragische, am Schluss verhalten optimistische Geschichte einer Siebzehnjährigen erzählt, die von ihrem Mathelehrer vergewaltigt wird. In diesem Jahr gab es mehrere Filme, die Probleme von Heranwachsenden in den Mittelpunkt stellten. So leidet die Heldin des moldawischen Films „Anishoara“ unter der eigenen, wie unter der Sprachlosigkeit ihrer dörflichen Umgebung. Die feinen Beobachtungen trugen jedoch keine 90 Minuten.

Der tschechisch-slowakische Streifen „Das fünfte Schiff (Pátá Lod)“ erzählte quälend, wenn auch mit poetischen Ansätzen, von der zehnjährigen Jarka, die sich von Mutter und Großmutter unverstanden fühlt und schließlich ein kleines Zwillingspaar in einer Laube versteckt. Regisseurin Iveta Grófová berichtete auf dem Filmforum, dass sie ihre Hauptdarstellerin unter 1000 Mädchen ausgewählt habe, damit sie ganz der Jarka entsprach. Da irritierte es doch, dass die Jury der kleinen Vanessa Szamuhelová den Darstellerpreis verlieh – hatte sie doch wenn auch mit viel Talent sich selbst gespielt. Ich hätte für diese Auszeichnung eher Piotr Žurawski als Titelheld „Kamper“ in dem dramaturgisch etwas holprigen polnischen Film über die Lebenskrise eines Online-Spieleerfinders gesehen.

Neben sozial bestimmten Schicksalen legte das NFF aber auch einen Fokus auf die Flüchtlingsproblematik. Im nicht allzu weit entfernten Bautzen gab es das „Spree-Hotel“ (wie auch der Film heißt). Seit wenigen Jahren ist es eine Unterkunft für Asylsuchende. Regisseurin Vivien Hartmann spielt nur am Anfang einige hasserfüllte Meinungen der braven Bautzener ein, die Angst vor messerbewaffneten Horden haben. Vor die Kamera wollte keiner von ihnen. Damit konzentriert sich der Film auf die Schicksale der Asylanten, die nicht nur von Sozialarbeitern sondern auch vom ehemaligen Hotelier Peter Rausch Unterstützung mit Institutionen wie auch bei persönlichen Auseinandersetzungen erhalten.

Die NDR-Reportage „Deportation Class“, als Wettbewerbsfilm eingereicht und dann doch außer Konkurrenz gezeigt, hat sich eindrucksvoll dem Thema „Abschiebung“ gewidmet. Der Schweriner Innenminister Caffier hat sich vor einem Jahr als besonders strenger Abschieber profiliert und hatte immerhin den Mut, vor der Kamera zu seinen Entscheidungen zu stehen. Das NDR-Team begleitet ihn und seine Polizei, die höflich aber unbarmherzig in der Nacht bei albanischen Familien erscheinen, sie aus den Betten holen und zum Rostocker Flughafen bringen. Albanien wird schließlich als sicheres Herkunftsland eingeschätzt. Erschreckend, wie die Betroffenen nicht recht wissen, wie ihnen geschieht, denn die Polizei hat nicht einmal einen Dolmetscher dabei. Die Filmemacher verhalten sich zwar neutral, lassen aber in Gesprächen mit ehemaligen Mitschülern der Albaner durchblicken, dass eine Einzelfallprüfung gegebenenfalls Leben retten kann. Eine Familie immerhin steht unter der Drohung der Blutrache. Das Team besucht sie in Albanien, und sie werden durch das Land von Versteck zu Versteck fliehen müssen, um dem Tod zu entgehen.

Den Dokumentarfilmpreis errang „Normální autistický Film“ des Tschechen Miroslav Janek, der auf menschlich bewegende Weise Jugendliche mit dem Asperger-Syndrom porträtierte. Auf heimatlichem Boden konnte der Regisseur den Preis zur Abschlussveranstaltung im Varnsdorfer Stadttheater (in der tschechischen Nachbarstadt des sächsischen Großschönau) entgegennehmen. Damit war das NFF eine Filmschau zwischen zwei Theaterbühnen – keine schlechte Nachbarschaft!

Frank-Burkhard Habel

DOK Leipzig 2016

Das 59. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilme findet vom 31.10. bis 06.11.2016 statt.

Insgesamt haben es 179 Filme und sechs interaktive Arbeiten in unsere Offizielle Auswahl geschafft. 100 dieser Filme feiern dieses Jahr ihre Welt- oder internationale Premiere bei DOK Leipzig.

Internationale Wettbewerb: zwölf Beiträge, darunter fünf von Regisseurinnen, mit zwölf beteiligten Produktionsländern und sechs internationalen bzw. Weltpremieren dringen tief in die Konflikte der Gegenwart und des Menschen vor, doch überraschen auch mit Humor und einer gehörigen Portion Herz. Zudem bietet er ein Nebeneinander von Newcomer/innen und bekannten Namen wie der renommierten deutsch-Schweizer Regisseurin Heidi Specogna, der bekannten französischen Schauspielerin und RegisseurinValeria Bruni Tedeschi oder der Finnin Mia Halme sowie ehemaligen Tauben-Gewinnern wie Sergei Loznitsa, SerhiyBukovsky, Vitaly Mansky und Miroslav Janek.

Ein weiteres großes Thema des Jahrgangs ist die Innenwelt autistischer Kinder und Jugendlicher. Während Miroslav Janeks „Normal Autistic Film“ geradezu physisch die überbordende Phantasie und Energie seiner Protagonist/innen überträgt, inszeniert die junge polnische Regisseurin Anna Zamecka in ihrem Erstlingswerk „Communion“ dramaturgisch nahe am Spielfilm ein Coming-of-Age-Drama von utopischer Strahlkraft.

Und natürlich hält das Filmprogramm auch wieder zahlreiche Neuentdeckungen bereit: Der Next Masters Wettbewerb, in dem alle nominierten Filme ihre Welt- oder internationale Premiere feiern, hat sich international als Sprungbrett etabliert.

In diesem Jahr vergeben 43 Künstler/innen und Filmschaffende in 11 Jurys die Preise. Unter anderem kommt der Opernregisseur und Maler Achim Freyer nach Leipzig. Auch David Sproxton, Mitbegründer der Aardman Animation Studios und Macher von Knetfiguren-Charakteren wie Wallace und Gromit oder Shaun das Schaf stimmt über Filme der Offiziellen Auswahl ab.

Eine neue Silberne Taube des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm ersetzt den bisherigen Leipziger Ring.

Der Leipziger Ring war durch die Stiftung in der Nikolaikirche verliehen worden. Gewürdigt wurden damit künstlerische Dokumentarfilme, die bürgerschaftliches Engagement für Demokratie und Menschenrechte aufzeigten oder unter Einschränkung der Medienfreiheit entstanden waren. 2014 hatte der Film „Citizenfour“ über den Whistleblower Edward Snowden aus den USA die Auszeichnung der ehemaligen DDR-Bürgerrechtler erhalten. Die Stiftung hatte sich Mitte Oktober vom DOK zurückgezogen.

Die kurzfristige Preisvergabe sei nach einer Spende des Dresdner Schauspielers und Kabarettisten Uwe Steimle möglich geworden. Sein Verhalten ermutige „umso mehr, einen Demokratiepreis beim Festival zu erhalten“, hieß es. Steimle hatte seine Spende damit begründet, dass „der Geist der friedlichen, gewaltfreien Revolution nicht in Vergessenheit geraten darf“.

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Festivals in Schwerin und an der Neiße

Eindrücke von Frank Burkhard (Juni 2016)

Auch, wenn sie zeitlich auseinandergerückt sind, überschneiden sich zwei Filmfestivals im Mai nach wie vor inhaltlich. Das Schweriner Filmkunstfest hat als Wettbewerb des unabhängigen deutschen Spielfilms vor 25 Jahren begonnen und zeigt jetzt in einer Vielzahl von Nebenreihen zusätzlich Kurz- und Dokumentarfilme, sehenswerte Streifen auch aus anderen Ländern, wobei ein gewisser Schwerpunkt in Osteuropa liegt und auch die DEFA-Geschichte immer wieder Entdeckungen bietet.

Das Neiße-Filmfest (NFF) war eine Idee der EU-Erweiterung. Als 2004 die Grenzen zu Polen und Tschechien fielen, war es offensichtlich, dass auch der Kunstraum grenzübergreifend wirken konnte. Filmenthusiasten aus der Umgebung von Zittau gründeten in Großhennersdorf ein Filmfestival fürs Dreiländereck, und Partner in Polen und Tschechien ermöglichten ein Kennenlernen anspruchsvoller Filme der drei Länder. Auch hier ist das Festival mit vielen Nebenreihen gewachsen. Ein Stück Welt, auch übers Dreiländereck hinaus, ist zu besichtigen.

Wie die Welt in die Provinz kommen könnte, zeigte der Dokumentarfilm „Parchim International“ von Stefan Eberlein und Manuel Fenn. Er lief sowohl in Schwerin als auch in Mittelherwigsdorf beim NFF und wurde rege diskutiert. Im Schweriner Wettbewerb gewann der Streifen, der am 19. Mai seinen Kinostart hatte, den Preis als bester Dokumentarfilm. Die Jury, der u.a. der DEFA-Dokumentarfilmer Winfried Junge angehörte, begründete den Preis so: „Überzeugend authentisch, zugleich aber auch gleichnishaft, ohne die Szene zu überhöhen, wird erlebbar, wie ein Mann von anderswo, hier ein chinesischer Unternehmer, seiner risikoreichen Idee folgt, nicht uneigennützig der Gegend in Parchim wirtschaftlich aufzuhelfen, indem er einen Großflughafen vornehmlich für den Frachtverkehr zwischen Asien und Europa zu schaffen versucht. Die Autoren dokumentieren das Projekt nicht nur mit Sympathie, sondern auch mit Skepsis, ohne sich mit Ironie zu Wort zu melden.“ Doch es gab schon Szenen, in denen sich beim „Großprojekt“ Fuchs und Hase „Gute Nacht“ sagten, und die zum Lachen reizten. Ein großes Verdienst der Filmemacher war, daß sie den chinesischen Investor in seiner Heimatgemeinde, einem vor Ausländern eigentlich streng abgeschirmten Gebiet, besuchten und ihm und seiner Familie menschlich sehr nahe kamen.

Ein Spielfilm wurde sowohl in Schwerin als auch beim NFF ausgezeichnet. Für „24 Wochen“ konnte Regisseurin Anne Zohra Berrached in Schwerin den Preis für die beste Regie, den Publikumspreis und den der DEFA-Stiftung entgegennehmen. Im polnischen Zgorzelec an der Neiße erhielten ihre Szenenbildnerin Janina Schimmelbauer und Fabian Reber einen Sonderpreis. Bei so vielen Preisen fällt es dem Kritiker schwer zu murren, aber es gab durchaus Zuschauer, denen der Plot des Films (ein Elternpaar muss sich entscheiden, ob sie das Kind bekommen wollen, das mit dem Down-Syndrom zur Welt kommen wird) zu vorhersehbar war, die mit der gefühlvollen Musik nichts anfangen konnten und denen die Handkamera auf die Nerven ging.

Während das Schweriner Festival fast ausschließlich im dortigen Kino Capitol stattfand, ist das Besondere des NFF, das es über Spielstätten in verschiedenen Städten und Gemeinden in drei Ländern verfügt. Hauptspielort des Spielfilmwettbewerbs war das über 100jährige Zittauer Kronenkino, aber es gab auch Nebenreihen mit großer Ausstrahlung. Im tschechischen Varnsdorf mit einer riesigen Panorama-Leinwand wurden 70mm-Filme präsentiert – hauptsächlich aus den USA. Im Zeichen des 70. DEFA-Jubiläums wurde aber auch Horst E. Brandts Film über die antifaschistische Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack mit dem Titel „KLK an PTX – Die Rote Kapelle“ aus dem Jahr 1971 gezeigt. Der dreistündige Streifen mit Klaus Piontek, Heidemarie Wenzel und Manfred Karge hat weder an Aktualität noch an Frische eingebüßt und wirkt noch immer spannend. Auch in Schwerin liefen einige DEFA-Spielfilme, wie „Die Beunruhigung“, in denen Christine Schorn im Mittelpunkt stand, der in diesem Jahr der „Goldene Ochse“, der Ehrenpreis des Festivals, verliehen wurde. Auch der seit einem Vierteljahrhundert verschollene Alltagsfilm „Heute abend und morgen früh“, den Dietmar Hochmuth 1978 als seinen Absolventenfilm in Berlin-Mitte gedreht hatte, konnte digital restauriert wiederaufgeführt werden. Er beobachtet Christine Schorn als Zahnärztin an der Charité bei ihrem Feierabend und im liebevollen – bei der Schorn immer augenzwinkernden – Umgang mit ihrem von Rolf Hoppe gespielten Mann. Weil der im dokumentaren Stil mit impressionistischen Momenten gedrehte Film nicht dem gewünschten Alltagsbild entsprach, musste er verändert werden, kam nicht ins Fernsehen.

Noch immer liegt ein Schwerpunkt des Schweriner Filmkunstfests auf dem deutschsprachigen Film, doch ist es viel internationaler geworden. Beispielsweise stellte sich in diesem Jahr Belgien als Filmland mit aktuellen Produktionen vor. Eine spontane Diskussion entstand nach der bei der DEFA entstandenen belgischen Ko-Produktion „Endstation Ost“. Der Film, den der Belgier Frans Buyens mit dem DEFA-Kameramann Hans-Eberhard Leupold 1964 unter dem Arbeitstitel „Ein Ausländer sieht die DDR“ über den Alltag und die Ansichten von DDR-Bürgern drehte, bot abgewogene, unverfälschte Urteile über politische Fragen. Die mangelnde Reisefreiheit kam ebenso zur Sprache wie mißliebige Auswirkungen des Mauerbaus. Es spricht für Walter Ulbrichts Realitätssinn, dass er sich für einen breiten Kinoeinsatz des Streifens aussprach, doch er wurde vom Politbüro eines besseren belehrt. Hier zu kritisch, in Belgien und dem Westen als zu kommunisten-freundlich angesehen, blieb dieses aufhellende Zeitbild weitgehend unbekannt.

 

Sowohl in Schwerin, wo es Beziehungen zu den polnischen Filmfestivals in Gdynia und Szczecin gibt, als auch an der Neiße kam man schnell auf eventuelle Veränderungen des deutsch-polnischen Verhältnisses unter der neuen, auf nationalistische Töne setzenden Regierung zu sprechen. Die deutsch-polnische Zusammenarbeit auf kulturellem Gebiet stand im Mittelpunkt einer Diskussion in Schwerin. Welche Auswirkungen hat die Abgrenzungspolitik der PIS-Partei auf das deutsch-polnische Verhältnis? Die Diskussionsteilnehmer wiegelten ab. Noch ist vieles möglich, auch, dass in der Zusammenarbeit mit deutschen und polnischen Filmemachern gegen den einseitigen polnischen Nationalismus gewirkt werden kann.

Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass das NFF wie alljährlich einen Workshop für Jugendliche der drei beteiligten Nationen ausrichtete, die dem Festivalpublikum als Ergebnis einen Kurzfilm zum Thema “Wem gehört die Welt?“ vorstellten. In einer Umfrage in den drei Ländern wurde von Schülern wie Erwachsenen erstaunlich oft »Gott« als Besitzer der Welt genannt. Zum Glück haben viele Filme des Festivals Mut gemacht, die Welt selbst in Besitz zu nehmen.

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24. Festival „dokumentART“

Noch immer sieht es so aus, als könnte plötzlich Henry Fonda mit Cowboy-Hut auf den Saloon zugehen und Charles Bronson auf seiner Mundharmonika das Lied vom Tod spielen. Das Westerndorf in der Wüste, in dem Sergio Leone seinen berühmten Film drehte, steht in Spanien noch als Touristenattraktion, hat aber inzwischen seine Anziehungskraft verloren. Auf dem 24. Festival dokumentART lief Karin Beckers Film „Pistoleros“, die Besitzer des Geländes, José und Genara, beobachtete, die heute die Kulissen hüten. Ein junger Rumäne hilft dabei. Geschichten wie diese würzten das Festival, das subtil vom Zeitgeist berichtete.

Originelle Bilder lieferte der polnische Film „Figura“ von Katarzyna Gondek. In einer Fabrik für Gartenzwerge und Dinos wird ein 14 Meter hohes Standbild von Papst Johannes Paul II. hergestellt. Letzte Arbeiten am riesigen Papst-Kopf, der Transport, bei dem JP II wie einst Lenin durch die Luft schwebt, das Zusammensetzen der Figur am endgültigen Standort: das alles wirkt absurd und ironisiert eine übergroße Papst-Verehrung.

Als britische Produktion drehte der Franzose Benjamin Huguet, der in Spanien studiert hatte, seinen Film „The Archipelago“ auf den Faröer Inseln. Nach einigen Bildern vom Töten von Nutztieren für unsere Ernährung kommt er schnell zum eigentlichen, international aktuellen Thema: der Walfang und das blutige Abschlachten der Tiere durch die einheimische Bevölkerung. Diesen Fischern, die das Walfleisch für den eigenen Bedarf nutzen, bringt der Filmemacher durchaus Verständnis entgegen, stellt aber auch die Frage nach der Notwendigkeit. Das korrespondierte mit einer Nebenreihe des Festivals, genannt „Das große Fressen“, die nicht nur Filme präsentierte, sondern auch Workshops zum veganen Essen und Verkostungen. Das war eine der vielen Ideen, die die niederländische Festivalleiterin Heleen Gerritsen einbrachte, die aber leider nicht verhinderten, dass sich das Interesse des Neubrandenburger Publikums in Grenzen hielt.

Einer der Filme heißt wie seine Kamerafrau – „Ella Maillart“ mit dem Zusatz „Double Journey“. Die 1997 hochbetagt verstorbene Reiseschriftstellerin und Fotografin ist außerhalb der Schweiz wenig bekannt, zählte aber zu den wichtigen Frauen, die im 20. Jahrhundert ihre Eigenständigkeit durchsetzten, noch bevor man von Emanzipation sprach. Um einen ethnographischen Film zu drehen, reiste sie 1939 durch den Orient nach Indien. Die Filmemacher Mariann Lewinsky und Antonio Bigini haben ihren Film ganz und gar mit Bildmaterial Ella Maillarts gestaltet.

Der eigentlich historische Filmstoff trägt viele Bezüge zur Gegenwart in sich, gerade auch durch die beiden Frauen, die ihre Selbständigkeit behaupten. Angenehm ist, dass die Filmemacher der Versuchung widerstanden, die Aufnahmen mit landesspezifischer Musik zu unterlegen. Als der Film jetzt in Neubrandenburg bei der 24. Ausgabe der dokumentART vorgestellt wurde, wies Mariann Lewinsky darauf hin, dass viele Passagen des Films durchaus nicht stumm, sondern mit einer Atmosphäre unterlegt waren. Aus technischen Gründen war das bei der Projektion nicht hörbar. Andere Filme wiesen unfreiwillige Bildverfremdungen auf, bei denen gerätselt werden durfte, ob es sich um avantgardistische Elemente handelt. Dies war nur eines von mehreren Zeichen dafür, dass das chronisch unterfinanzierte und mit vielen Freiwilligen in Selbstausbeutung betriebene Festival in diesem Jahr noch mehr sparen musste. Sicherlich nicht nur, weil lange Titel jetzt in Mode kommen, vergab die internationale Jury ihren nach der Hauptspielstätte benannten 1. Preis, den Latücht-Preis, an Susann Maria Hempel für „Sieben Mal am Tag beklagen wir unser Los und nachts stehen wir auf, um nicht zu träumen“. Im Gegensatz zu Filmen mit dokumentarischem Ansatz wagte die Greizer Künstlerin eine wirklich avantgardistische Erzählweise, um das grausame Thema sexuellen Missbrauchs poetisch zu verarbeiten. „Der Film nähert sich dem schwierigen Thema des Missbrauchs mittels eines experimentellen, kunstvollen Ansatzes, in einer Mischung aus Animation, Installation und exzellentem Sound Design“, formulierte es die Jury in ihrer Begründung. Obwohl die Filmemacherin ihre Collage aus Bildern, akustischen Interviews und Schlagern ein „mechanisches Ballett“ nennt, ist der Film der Thüringerin sehr eigenständig und nicht mit Fernand Légers dadaistischen „Ballet mecanique“ von 1924 vergleichbar.

Frank-Burkhard Habel

Filmische Entdeckungen in Polen

Das etwa 50 km östlich von Frankfurt/Oder gelegene Łagów wird auch die „Perle des Lebuser Landes“ genannt. Hier wurde vor 47 Jahren das nunmehr älteste polnische Filmfestival, der Lebuser Filmsommer, gegründet, der sich dem ost- und mitteleuropäischen Film widmet. In diesem Jahr fand er zum 44. Mal statt, eine sportliche Leistung, denn der langjährige Chef Andrzej Kawala muß oft bis zur letzten Minute um Zuschüsse und Sponsoren kämpfen.

In diesem Jahr hatte er einige Leckerbissen zu bieten, die schon mit einem 100 Jahre alten Film begannen. Etwas in Vergessenheit geraten war die Tatsache, daß der Hollywood-Regisseur Michael Curtis („Casablanca“) seine Laufbahn als Mihály Kertész im ungarischen und österreichischen Film begonnen hatte. Sein Film „A tolonc“ (Das Exil) mit Lily Berki sowie Mari Jászai, der bedeutendsten ungarischen Darstellerin ihrer Zeit entstand 1914 im heute in Rumänien gelegenen Cluj und Umgebung. Auch wenn es eine Groschenromangeschichte um Liebe, Verbrechen, Diebstahl, Versöhnung im Stil der Zeit war, frappierte neben der Spielfreude der Darsteller die Qualität der filmischen Rekonstruktion.

Aus der aktuellen ungarischen Produktion lief in Łagów u.a. der grotesk-bissige und deutlich zivilisationskritische Streifen „Parkolo“ (Parkplatz) von Bence Miklauzic. Zwei Besessene treffen aufeinander: Legio(när) ist Pächter eines Parkplatzes und liebt die Tauben, die bei ihm nisten, begräbt sie, wenn die Katze wieder zugeschlagen hat. Imre, ein Unternehmer aus der Nachbarschaft, besteht darauf, seinen geliebten Ford Mustang auf den Taubengräbern zu parken. Als Legio es ihm verweigert, kommt es zu einem verbissenen Psycho-Krieg zwischen den Männern. Am Ende ist einer der beiden tot.

Schöne Entdeckungen gab es auch vom polnischen Film. „Carte Blanche” von Jacek Lusinski erzählt die authentische Geschichte eines Literaturlehrers in Lublin, der erblindet und die Tatsache vor seiner Umwelt versteckt, weil er um den Job fürchtet. Andrzej Chyra Viele poetische Bilder hat „Onirica“ von Lech Majewski, der in Łagów mehrere Filmforen bestritt. Er porträtiert einen jungen Mann, der seine Familie bei einem Unfall verloren hat. Der führt philosophische Gespräche mit seiner Tante, die um Dantes Werk kreisen. Majewski findet metaphernreiche Bilder von Taube und Schlange. Spektakulär, wenn der (verstorbene) Vater den Boden in einer real-Kaufhalle umpflügt und am Schluß eine Kirche von der Sintflut bedeckt wird.

Die traditionell guten Beziehungen des Lebuser Filmsommers mit dem Verein Kommunales Kino Cottbus e.V. fanden ihren Ausdruck dem deutsch-polnischen Projekt „Kennenlernen und verstehen – Geschichte und Gegenwart in der deutschen und polnischen Filmkunst“. Auch deutsche Filme – vorrangig von Studenten aus Berlin und Babelsberg – wurden gezeigt.

Frank Burkhard (Erstveröffentlichung auf Das Blättchen.de Nr. 15/2015)

 

Osteuropas Treffen im Dreiländereck

Vielleicht bedeutete das volle Dutzend den Durchbruch? Das Neiße Filmfestival, das zu Monatsbeginn zum 12. Mal im Dreiländereck in deutschen, tschechischen und polnischen Spielstätten stattfand, wurde um einen Spieltag erweitert, konnte seine Besucherzahlen und auch das Medieninteresse vergrößern, und vor allem: Die Schirmherrin, die sächsische Kultusministerin Dr. Eva-Maria Stange, war diesmal selbst zur Eröffnung ins Zittauer Gerhart Hauptmann Theater gekommen. Sie hatte nicht nur schöne Worte für das ausschließlich von Freiwilligen organisierte Festival dabei, sondern auch die Mitteilung über eine nunmehrige institutionelle Förderung. Die ist auch dringend nötig, denn in Selbstausbeutung, aber mit nicht nachlassender Begeisterung stemmen die Festivalmacher um Andreas Friedrich, Ola Staszel und Antje Schadow drei Wettbewerbe (Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme), mehrere Nebenreihen (in diesem Jahr u.a. eine 70mm-Filmretrospektive im tschechischen Varnsdorf), Konzerte und Lesungen in 17 Spielstätten. Ehrenpreisträgerin war in diesem Jahr die polnische Regisseurin Dorota Kędzierzawska.

In der Hillerschen Villa in Zittau wurde am Rande die sehenswerte Ausstellung „Familia“ eröffnet, in der die Fotografin Oksana Yushko, die selbst in einer russisch-ukrainischen Beziehung lebt, binationale Paare aus den beiden Ländern porträtiert. Sie hatte keine Schwierigkeiten, Paare der angeblich verfeindeten Nationen von Wladiwostok bis in die Westukraine aufzuspüren. Wie nicht anders zu erwarten, würden sie es begrüßen, wenn ihre Heimatländer sich auf die gemeinsamen Wurzeln in der Sowjetunion besinnen und zum friedlichen Miteinander kommen. Noch bis Ende Mai kann man Fotos im Café Jolesch besichtigen.

Viele Filmemacher waren zu anregenden Gesprächen erschienen, beispielsweise Gerd Kroske, der mit seinem gerade in den Kinos angelaufenen Film „Striche ziehen“ nach Großhennersdorf kam. Hier geht es auch um die Unmöglichkeit eines Schlußstrichs, den mancher gern unter die Denunziationen in der DDR ziehen würde. Er porträtiert die Mitglieder einer Jugendclique aus Jena, die sich in den achtziger Jahren oppositionell gebärdet und durch einen von ihnen verraten wurde. Dieser Jürgen, der Täter und Opfer zugleich war, stellt sich dem Gespräch mit dem Filmemacher wie auch mit seinem von ihm verratenen Bruder, aber zum gegenseitigen Verständnis ist ein weiter Weg. Vielleicht eine Sackgasse, kann man befürchten.

Mehr Hoffnung gab das Gespräch mit dem Oscar-Preisträger Jochen Alexander Freydank, dessen Literaturadaption „Kafkas Der Bau“ im Zittauer Kronenkino erst zum zweiten Mal (nach Saarbrücken, wo auch gedreht wurde) vor deutschem Publikum lief. Ohne in einen unbotmäßigen Realismus zu verfallen, schafft es Freydank, den Stoff (in dem es bei Kafka um einen Dachs in seinem Bau geht) in die Gegenwart zu holen und von einem Angestellten zu erzählen, der in einem labyrinthähnlichen Trakt eine Neubauwohnung bezieht. Ob seine Begegnungen wirklich oder eingebildet sind, bleibt offen. Mit entsättigten Farben erzählt Freydank vom zunehmenden Verfall in einer menschenfeindlichen Welt. Darin spielt Axel Prahl den Paranoiker fernab dessen, was er sonst auf dem Bildschirm liefert. Für die Ausstattung konnte Szenograf Tom Hornig den erstmals vergebenen Preis der Stadt Görlitz bei der Abschlussveranstaltung in der dortigen Landskronbrauerei entgegennehmen.

Neben zahlreichen weiteren Auszeichnungen ging der inoffiziell als Hauptpreis angesehene Preis für den besten Spielfilm an die slowakisch-tschechische Produktion „Koza“ (Die Ziege). Der slowakische Boxer Peter Baláž spielt sich in dem gleichnamigen Film selbst: einen Berufsboxer, der lange nach seinen großen Erfolgen in Deutschland noch einmal in den Ring steigt, weil er Geld braucht. Dabei geht es in dem langsam erzählten, nachdenklichen Streifen vor allem um Kozas Innenleben, seine Sorgen und Zweifel. Regisseur Ivan Ostrochovský war mit seinem Hauptdarsteller in die Landskronbrauerei gekommen, und beide wurden stürmisch gefeiert.

Frank Burkhard (Erstveröffentlichung auf Das Blättchen.de Nr. 11/2015)

 

Vier Kinder und ein Feldbett

der Blog von Verbandsmitgliedern

  • zur 65. Berlinale (2015)
  • und zur Mostra Venedig 2015

 

 

 

Weitere Berlinale-Kritiken in der rationalgalerie:

 

 

 

Neubrandenburger dokART

 

Das traditionsreiche Neubrandenburger Filmfestival, das in diesem Jahr aufgrund ausgelaufener Förderungen nicht mehr gleichzeitig im polnischen Szczecin stattfand, ist dennoch international geblieben. Die neue Festivalleiterin aus den Niederlanden, Heleen Gerritsen, hatte einige Ideen, wie das Neubrandenburger Publikum stärker interessiert werden könnte, und man sah auch mehr junge Leute im Saal des Medienhauses „Latücht“.

Der Wettbewerb setzte wieder stärkere politische Akzente. Nacht Grenze Morgen, 2013 an der HFF München entstanden, beobachtet die jungen Schleuser Ali und Naser, die an der türkisch-griechischen Grenze agieren. Die aus Syrien und Palästina stammenden Männer sind durchaus keine Leute, die sich am Geld armer Flüchtlinge bereichern wollen. Sie leben selbst unter tristen Bedingungen in der Hoffnung, durch ihre Arbeit Menschen in Sicherheit bringen zu können und gleichzeitig ihren bitterarmen Familien zu helfen. Die Regisseure Felicitas Sonvilla und Tuna Kaplan haben die Situation beobachtet, als die Türkei 2012 ihre Grenze aufrüstete. Damit blieb nurmehr der Fluchtweg übers Meer. Naser blieb nach einem Bootsunglück verschwunden.

In die Geschichte deutscher Schuld gegenüber den Völkern in den ehemaligen Kolonien steigt Eva Knopf ein. Sie erzählt in Majubs Reise von dem Nubier Majub Mohammed bin Hussein, der als Kindersoldat im Ersten Weltkrieg unter General Lettow-Vorbeck in Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania, für Deutschland in Afrika kämpfte. Mit dem anerzogenen Vertrauen in die Kolonialherren reist er 1929 nach Berlin und verlangt im Auswärtigen Amt den ausstehenden Sold für sich und seinen Vater. Er soll ausgewiesen werden, kann aber illegal in Berlin bleiben, wo er schließlich Arbeit als Lehrer für Suaheli und unter dem Namen Mohammed Husen als Kleindarsteller beim Film findet. Filmausschnitte zeigen ihn neben damals bekannten Schauspielern wie Heinz Rühmann, Charlott Daudert oder Otto Wernicke. Eine größere Rolle hat er, als Hans Albers den kolonialen Menschenschlächter Carl Peters als deutschen Herrenmenschen spielt. Majub ist unvorsichtig, wird denunziert und im KZ Sachsenhausen vierzigjährig umgebracht. Der Film wurde mit dem „Findling“ der alternativen Spielstätten des Landes ausgezeichnet.

Besonders einfühlsame Porträts von Menschen in abgeschiedener Landschaft kamen aus Belorussland, wo Victor Asliuk einen ehemaligen Forsthüter und sein Pferd „Almaz“ auf einer weitläufigen Insel im Ladoga-See beobachtete (Preis des Studentenwerks Greifswald), und aus Lappland, wo der samische Regisseur Paul-Anders Simma in einer skandinavischen Koproduktion die junge „Olga“ beobachtet, die meist in Einsamkeit lebende Helferin einer Brigade von Rentierherdenarbeitern. Dieser warmherzige Film aus der Kälte fand in Neubrandenburg viel Anklang. In die heißen Gassen Havannas führt der dänische Film „Historias de Balcones“ (Balkongeschichten). Am Beispiel des über 90jährigen blinden Ceci, der über seinen Balkon am Leben seiner Straße teilnimmt, erzählt die Regisseurin Helle Windeløv vom Leben der kleinen Leute voller Gelassenheit und Lebensfreude – trotz der bröckelnden Architektur.
Die beiden Hauptpreise gingen nach Israel und Russland für eher feuilletonistische Beiträge. Das Thema von Regisseurin Milli Pecherer, die von französisch-russischen Einwanderern abstammt, hatte weniger Relevanz, aber einen Witz, der überall ankommt. Ihr selbstironischer Film Yeruham Off Season erhielt den Preis der Stadt Neubrandenburg. Sie benutzte ihre Kamera als Waffe gegen die Zudringlichkeiten der Männerwelt einer kleinen Wüstenstadt, erzählt dabei aber viel Alltag in der israelischen Provinz.
Russischen Alltag erlebten wir in dem Film Blut von Alina Rudnitskaja aus einer besonderen Perspektive. Sie begleitet in ihrem Schwarzweißfilm (zum Glück für zartbesaitete Zuschauer ist das Blut hier nur grau) eine Gruppe von Frauen, die durchs Land fährt und Blutspenden entgegennimmt. Es ist offensichtlich, dass die meisten der Spender durch Armut dazu gezwungen sind, ihr Blut zu verkaufen. Trotzdem retten sie Leben – wenngleich die Frauen immer wieder Konserven aussortieren müssen, weil die Spender Vorerkrankungen verschwiegen haben. „Die Regisseurin legt ein weitverzweigtes System von Machtspielen offen und zeichnet zugleich eine Vielzahl von intimen Portraits”, schrieb die Jury in der Begründung, warum der Hauptpreis, der Latücht-Preis des Mecklenburger Kultusministeriums, diesem Film verliehen wurde.

Frank-Burkhard Habel

 

Entdeckungen auf dem Neiße-Filmfestival

 

Randregionen gehören in der Regel nicht zu den kulturellen Zentren der jeweiligen Länder, auch, wenn sie dank der EU-Erweiterung nun mitten in Europa liegen. Zumindest einmal im Jahr ist es im Dreiländereck von Zittau anders. Filmenthusiasten aus dem nahegelegenen Großhennersdorf haben vor zehn Jahren das Neißefilmfestival aus der Taufe gehoben, das das Kinoleben in allen drei Ländern belebt. Aus Polen, Tschechien und Deutschland kommen die Wettbewerbsfilme und aus halb Europa und manchmal auch aus Übersee die Filmemacher, um über ihre Arbeit zu berichten. Reich war das Themenspektrum in diesem Jahr: litauische Flüchtlinge, deutscher Döner-Imbiss, polnische Homos, tschechoslowakische böse Clowns, jüdisches Leben Osteuropas, sarmatische Pferdefreunde, schlesische Kumpel, dalmatinische Verhütungsfeinde, böhmische Kinobetreiber, lausitzer Landvermesser … Der Kenner errät, daß sowohl Volker Koepps jüngster wie auch Konrad Hermanns erster Film das Programm bereicherten.

Wiederum sagten sich in diesem Jahr die Festivalmacher um Andreas Friedrich: Wer Vieles bringt, wird manchem etwas bringen! Auch und gerade in kulturell benachteiligten Regionen sollte das funktionieren. Tatsächlich gab es zum Bersten volle Säle, aber eben auch Vorstellungen in den Nebenspielstätten im In- und Ausland mit mehr als enttäuschendem Zuspruch. Das lag oft an unzureichender Information. Nach wie vor blieb der Appell an die zuständigen Medien unerhört, dem Festival eine passende Tribüne zu bieten. Der Sachsenspiegel des MDR kümmerte sich einzig um den Ehrengast Andreas Dresen, dem eine liebevolle Retrospektive gewidmet war. Doch das Programm bewies eindeutig überregionalen Anspruch.

Das Thema der Vergangenheitsaufarbeitung klang gleich im Eröffnungsfilm Der letzte Mentsch an. In der europäischen Produktion von Pierre-Henry Salfati spielt Mario Adorf einen alten Juden, der noch einmal seine osteuropäische Heimat aufsucht, um jemanden zu finden, der sein Judentum bezeugt, damit er rituell bestattet werden darf. Mit Hannelore Elsner und Eva Probst hatte er zwei beeindruckende Altstars an seiner Seite. Trotz psychologischer Ungenauigkeiten gab es einige große Momente in dem Film, dem andere Streifen zum jüdischen Leben folgten. Ein Besuch des jüdischen Friedhofs in Zittau gehörte ebenfalls zum Festivalprogramm.

Die trinationale Jury des Hauptwettbewerbs unter dem polnisch-deutschen Schauspieler Adrian Topol zeichnete nicht unbedingt nur publikumsträchtige Streifen aus. Sicherlich war die kroatische Komödie Gott verhüte von Vinko Bresan über einen Pfarrer, der die Kondome in seiner Gemeinde zerstechen lässt, nicht tiefgründig genug. Der Publikumspreis bestärkte den Verleih Neue Visionen aber in seinem Vorhaben, den Film im Sommer in deutsche Kinos zu bringen, wo er Achtungserfolge erzielte. Auch Michael Baumanns bereits gestartete Tragikomödie Willkommen bei Habib mit Vedat Erincin, Thorsten Merten und Klaus Manchen in den Hauptrollen, der nicht nur das Miteinander verschiedener Kulturen sondern auch die Ambivalenz von arm und reich komödiantisch verzahnte, wurde von der Hauptjury übersehen.

Die beiden ausgezeichneten Filme waren dann doch achtunggebietende soziale Studien, wenngleich sie wenig Neuigkeitswert besaßen. Eine ehrende Anerkennung erhielt der polnische Film Tiefe Wasser von Tomasz Wasilewski. Er erzählt von einem Leistungsschwimmer, der in fester Beziehung lebt und sich plötzlich in einen Mann verliebt. Wie es weitergeht, kennen wir bereits aus Filmen wie Coming out oder Freier Fall. Schade ist es immer, wenn Filmemacher nicht die große Kraft der Liebe erzählen, sondern die schier unüberwindlichen Probleme einer solchen Beziehung in den Vordergrund rücken.

Mit dem Hauptpreis des Festivals wurde der tschechische Streifen Mirakel von Juraj Lehotský ausgezeichnet. Eindringlich werden die Erfahrungen einer 15jährigen mit Drogen und Prostitution gestaltet, und die ein Kind von einem doppelt so alten Mann erwartet. Die auf realen Ereignissen beruhende Story gewinnt durch die Darstellung von Michaela Bendulová an Authentizität, weil sie eigene Erfahrungen in die Rolle einbringen konnte. Leider wartete man vergeblich auf neue Aspekte in einer schon hundertmal erzählten Geschichte.

Neue Fragen nach unserem Umgang mit sogenannten Behinderten stellte hingegen der unter dem internationalen Titel Life Feels Good gestartete polnische Film von Maciej Piepryca. Gehen wir auf Menschen mit Handicap wirklich einfühlsam ein? Genügen die praktizierten Untersuchungsmethoden den Erkenntnissen der modernen Medizin? Auf einer wahren Begebenheit beruhend erzählt er von einem jungen Mann, der seit der Kindheit an zerebraler Bewegungsstörung leidet. Der großartige Dawid Ogrodnik wurde für seine authentische Darstellung mit einem Preis ausgezeichnet.

Ende September stellten Andreas Friedrich und seine Mitstreiter ihr Festival im gut gefüllten Berliner Kino Krokodil vor. Hauptbeitrag war der Film One Fine Line der Kanadierin Jo-Anne Velin, in dem sie sich auf die Spuren ihres Vaters macht, der als KZ-Häftling von der Oberlausitz ins Böhmische getrieben wurde. Auch für Berliner Zuschauer war dieser an der Neiße gestartete Film eine gute Entdeckung.

Frank-Burkhard Habel